Die aus Anlaß der Wahl zum Bürgermeister und der anschließenden Amtseinführung gehaltene Rede, die nicht nur an die Gemeindevertretung, sondern an alle in der Gemeinde wohnhaften Personen gerichtet ist, bringen wir nachstehend.
Verehrte Herren der Gemeindevertretung,
soeben haben Sie mich zum Bürgermeister der Gemeinde Brechen auf die Dauer von 6 Jahren gewählt.
Für das von Ihnen damit mir gegenüber ausgesprochene Vertrauen möchte ich mich recht herzlich bedanken.
Gleichzeitig erneuere ich das an dieser Stelle vor 2 Jahren abgegebene Versprechen, damals für die noch selbständige Gemeinde Oberbrechen und heute für die ab 01.07.1974 neu gebildete Großgemeinde: der Gemeinde und den darin wohnenden Menschen dergestalt zu dienen, daß ich meine ganze Kraft zum Wohle aller einsetzen werde.
Ein klein wenig darf ich auch darüber stolz sein, als Sohn der neuen Großgemeinde ihr als erster Bürgermeister vorstehen zu dürfen.
Wenn wir auf die frühe Geschichte der beiden Ortsteile Niederund Oberbrechen zurückblicken, könnte man sagen, daß sie sich "wiedergefunden" haben. Hierzu darf ich auf die Urkunde von Kaiser Karl aus dem Jahre 972 verweisen, in der ja Brechen als eine Einheit genannt wurde.
Mit dem dritten Ortsteil Werschau sind Menschen zusammengeführt worden, deren Vorfahren auf vielen Gebieten feste Bindungen zueinander hatten. Die geographische Lage hat hier noch einen weiteren Beitrag zu dem heutigen Gemeindegebilde geleistet. Wie sich der Zusammenschluß auf weite Sicht auswirken wird, werden erst unsere Nachkommen endgültig beurteilen können.
Das ortsteilbezogene Denken wird sich auch in unserer Generation noch nicht völlig auswischen lassen: dazu sind wir bisher zu tief mit dem Dorf verbunden, in dem man wohnt und evtl. aufgewachsen ist. Wir sollten hierfür zunächst noch Verständnis haben, auf der anderen Seite aber versuchen, dies nach und nach abzuschaffen.
Reichen wir uns die Hände und ebnen Wege, die das Zusammenleben in unserer neuen Großgemeinde den jetzt lebenden Menschen und unseren Nachkommen leichter werden läßt.
"Wie der Zwist der Liebenden sind die großen Kontraste der Welt, Versöhnung ist mitten im Streit, und alles Getrennte findet sich wieder " (Hölderlin).
Gerade in der nun vor uns liegenden Zeit werden wir uns nur in gegenseitigem Vertrauen, der Achtung füreinander und in friedlichem Geiste das vollziehen können, was das Zusammenleben so menschlich macht.
Sie alle wissen, was ich sagen will: Es wird eine Zeit vor uns liegen, die nur dann zu meistern ist, wenn wir alle "an einem Strange ziehen".
Es wird sicherlich eine schwere Zeit werden, in der die Gemeindegremien, die Verwaltung, der Bürgermeister, in enger Verbindung zur Bevölkerung, unter objektiver Betrachtung der Verhältnisse Beschlüsse fassen und sie zum Nutzen und Wohle aller ausgeführt werden müssen.
Die Gemeindemitglieder sollten daher Verständnis für die ehrenamtliche Arbeit der Gremien haben; Unmögliches sollte nicht verlangt werden.
Eine gute Zusammenarbeit zwischen den gemeindlichen Körperschaften mit der Verwaltung ist eine weitere Voraussetzung zur erfolgreichen Gemeindearbeit. Eine gut funktionierende Verwaltung muß räumlich und personell natürlich entsprechend ausgestattet sein. Hier müssen für die Zukunft, und dies nicht in weiter Ferne, Grundlagen geschaffen werden, die mit wenig Aufwand den größtmöglichen Erfolg garantieren.
Lassen Sie mich in Kürze einige Programmpunkte als Richtschnur künftiger gemeinsamer Arbeit aufzeigen.
1. Wir alle wissen um die finanzielle Lage von Bund, Land und Gemeinden.
Wir alle wissen, daß bis zum Zusammenschluß am 01.07.1974 Maßnahmen durchgeführt wurden, die wohl berechtigt, aber in einer anderen Zeit auf längere Sicht hinaus erst erledigt worden wären.
Das Fazit läßt sich leicht ziehen, wenn man die hierfür aufgebrachten Kosten sieht.
Sofern die derzeitige Situation auf dem Finanzwesen sich nicht ändert, können die begonnenen Maßnahmen noch fertiggestellt und nur äußerst notwendige Dinge neu begonnen werden. Zu Letzterem zählt natürlich "Problem Nr. 1" unserer Gemeinde, die Trinkwasserversorgung. Hier müßten auch Bund und Land einen wichtigen Beitrag leisten und nicht die Verantwortung für die Bürger nur den Gemeinden alleine überlassen. Auf anderen Gebieten wird dies auch nicht praktiziert und den Gemeinden alle möglichen Pflichten und Bürden auferlegt.
Neben der Trinkwasserversorgung wird der Bau eines Verwaltungsgebäudes nicht zu umgehen sein. Wenn eine Gemeinde ordnungsgemäß geführt werden soll, dürfen die derzeitigen - fast primitiven - Unterkunfts- und Arbeitsverhältnisse nicht mehr allzu lange bestehen bleiben. Wer dieses Problem nicht sehen will, darf auf der anderen Seite keine Klagen darüber äußern, daß die Verwaltung nicht funktioniere.
2. Eine wachsende und immer mehr an Bedeutung gewinnende Aufgabe wird die Frage des Umweltschutzes sein müssen.
Sauberhaltung der Landschaft, Reinhaltung der Gewässer und Verschönerung des Dorfbildes muß oberstes Gebot für die gesamte Gemeinde sein.
In diesem Zusammenhang sind auch alle Rekultivierungsmaßnahmen zu sehen, die zum Teil bereits begonnen wurden und für die bei der Bevölkerung um Verständnis gebeten wird.
3. Eine gute Zusammenarbeit mit allen für die Gemeinde zuständigen Behörden ist stets anzustreben. Ehrliches und offenes Vorgehen gegen Jedermann muß Richtschnur allen Handelns sein.
4. Die Information der Bürger in der heutigen Zeit stellt ebenfalls ein echtes Bedürfnis und für die Gemeinde eine Verpflichtung dar. Hier sollte die Verbesserung des Informationsblattes und eine ausführliche Unterrichtung durch die Presse angestrebt und auch erreicht werden.
Die Presse soll mit sachlicher Berichterstattung und Kritik ihren Teil zum Gemeindeleben beitragen, was ihr bis zum heutigen Tage bescheinigt werden kann.
Für die gute Zusammenarbeit und die Öffentlichkeitsarbeit sei der Presse, insbesondere der NLZ und dem Weilburger Tageblatt, recht herzlich gedankt.
Wer keine Kritiker oder sogar Feinde hat, wird nicht wach bleiben müssen und im Halbwachen den Weg weitergehen können.
"Nicht nur meinen Freunden und Bekannten, sondern auch meinen Feinden bin ich für diese Hilfe dankbar".
5. Künftig wird auf dem sozialen Sektor infolge der derzeitigen Konjunkturlage die Betreuung noch intensiver erfolgen müssen.
Nicht nur die materielle Hilfe ist darin zu sehen, sondern die menschlichen Beziehungen zueinander sollten aktiviert werden. Die Beratung, Aussprachen, gemeinsame Treffs, das Selbsttätig werden bis zur Schaffung von Unterhaltungsmöglichkeiten müssen Programmpunkte, insbesondere auch in der Altenbetreuung, sein.
Die ausländischen Mitbürgerinnen sollen als Gemeindemitglieder voll integriert und somit echt in unsere Gemeinschaft aufgenommen werden.
Nicht nur zur älteren Generation, sondern auch zur Jugend verbindet mich ein besonderes Verhältnis. Unterstützung der Jugendarbeit sollte für die gesamte Gemeinde und auch besonders für die Gremien ein echtes Anliegen sein, Vorurteile und schnelles Verurteilen lassen leider oft geschlagene Brücken zu dieser Bevölkerungsgruppe wieder einstürzen. Helfen wir alle mit, die Jugend als vollwertiges Mitglied unserer Gemeinschaft anzusehen und mit ihr in einem guten Verhältnis zu leben.
Seien wir ob ihrer "Sturm- und Drangzeit" nicht ungehalten; dadurch sind schon manche alten Zöpfe abgeschnitten worden. Die Jugend wiederum sollte Verständnis dafür haben, daß nicht alle Forderungen, auch auf räumlichem Gebiet, sofort erfüllt werden können.
6. Auf sportlichem Sektor sind inzwischen zwei Sportanlagen geschaffen werden, auf die die Gemeinde sicherlich stolz sein kann. Mit dem Neubau der großen Sporthalle im hiesigen Ortsteil, in der auch andere Veranstaltungen durchgeführt werden und mit der geplanten Erweiterung der Turnhalle im Ortsteil Niederbrechen durften Voraussetzungen geschaffen sein, daß viele und auch manche neue, bisher nicht mögliche Sportarten, betrieben werden können.
Dieses Angebot sollte von der Bevölkerung auf breiter Basis angenommen werden.
Auch der Behindertensport sollte dann Eingang in die neue Halle unserer Gemeinde finden.
7. Die im künftigen Flächennutzungsplanfür alle drei Ortsteile ausgewiesenen Neubaugebiete für Wohn- und Gewerbezwecke sollten alsbald erschlossen und bebaubar gemacht werden.
Hierbei denke ich an die bereits schon seit längerer Zeit anstehenden Projekte wie z. B. Erschließung der "Brühlau" im Ortsteil Niederbrechen für gewerbliche Zwecke. Der Landwirtschaft wird große Bedeutung beizumessen sein, wobei sie die Gewißheit haben muß, nicht alleine gelassen zu werden.
8. In der neuen Großgemeinde gibt es viele Vereine.
Das Vereinsleben ist in unserer heutigen Gesellschaftsstruktur ein nicht mehr wegzudenkender Faktor.
Dies wird anerkannt und ein einheitliches Förderungsprogramm sollte die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung zwischen den Vereinen und der Gemeinde erwirken.
9. Ein erweitertes Bildungsprogramm, das Erkennen der historischen Bedeutung unserer Gemeinde mit ihren Auswirkungen, sollte ebenso in der Gemeindearbeit nicht fehlen. Die Gemeinde sollte in Zusammenarbeit mit der Aufsichts- und Schulbehörde ihr ganzes Bemühen auf dem schulischen Sektor dahingehend einsetzen, daß eine Förderstufe der Schule im Ortsteil Niederbrechen eingerichtet wird.
10. Auch der weitere Ausbau und die Verschönerung durch Anlagen und Freizeitstätten etc. in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden sollte vorangetrieben werden. Aus Kostenersparnisgründen sollte man sich unseres Waldes bedienen, aus dem Material für Geräte etc. für wenig Geld zu holen ist.
Die Einbeziehung der ganzen Gemeinde in den Zweckverband "Naturpark Hochtaunus" ist beantragt und sollte vorangetrieben werden. Bisher ist nur das Gebiet des Ortsteiles Oberbrechen darin enthalten.
Es wäre an dieser Stelle heute noch vieles zu sagen. Alles, was hier soeben vorgetragen, soll und darf nicht nur Zukunftsmusik sein, wenn die Gemeinde als Mittelpunkt im "Goldenen Grunde" gelegen, sich weiterentwickeln soll. Und dies wollen wir sicherlich alle.
Natürlich sind manche Maßnahmen im Hinblick auf die Finanzsituation der Gemeinde in ihrer Verwirklichung erst in der Zukunft zu sehen. Wer sich aber keine Ziele setzt, wird auch auf seinem Weg nicht weiterkommen.
Die neu gebildete Gemeinde Brechen bietet in ihrer jetzigen Gestalt auf vielen Gebieten echte Voraussetzungen, als aufstrebende Gemeinde eine Mittelpunktfunktion einzunehmen.
Hierzu möchte auch ich als Bürgermeister im Rahmen der mir gegebenen Möglichkeiten mit meiner ganzen Schaffenskraft beitragen.
Lassen Sie mich "Motor” sein und helfen Sie als eine auf Gedeih und Verderb verschworene Mannschaft mit, das richtige Ziel zu erreichen.
Verweisen Sie mich auch wieder auf den richtigen Weg, wenn ich geirrt und gefehlt habe.
Daß die Arbeit als Bürgermeister der Großgemeinde Brechen nicht nur Freude und Genugtuung, sondern auch eine große Verantwortung und unter Hintenanstellung persönlicher Dinge viele Schwierigkeiten bringt, ist mir längstens klar geworden.
Nun, das Amt sehe ich als eine Verpflichtung dem Mitmenschen gegenüber im Geiste unseres christlichen Glaubens an. Hierfür gilt mein Leitwort: "Wer unter Euch der Erste sein will, sei Euer aller Diener".
Ehe ich schließe, möchte ich mich bei allen bedanken, die mir in der zurückliegenden Zeit bei meiner Arbeit geholfen haben. Hierbei denke ich an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt Limburg, in deren gemeinsame Zeit ich viele Grundlagen für die heutige Stellung, der früheren Gemeinde Oberbrechen und jetzt der neuen Großgemeinde Brechen, erhielt.
Ganz besonderer Dank gebührt den Mitgliedern der alten und neuen Gemeindegremien, mit denen ich bis zum heutigen Zeitpunkt sicherlich ein gutes Verhältnis hatte, zum Nutzen der Gemeinde.
Dank auch an die beiden Vorgänger Herrn Runte und Herrn Keuler in den früheren Gemeinden Brechen und Oberbrechen.
Mein besonderer Gruß gilt heute an dieser Stelle den kranken und älteren Menschen in unserer Gemeinde, denen ich gute Besserung und noch viele Lebensjahre in Gesundheit wünsche.
Mein Gruß geht aber auch über die Landesgrenzen nach Frankreich und Belgien, hin zu den dort wohnenden Freunden. Nicht zuletzt aber auch an all diejenigen, die früher in allen drei Ortsteilen der Gemeinde Brechen wohnhaft waren und sich heute in der Fremde noch mit ihrer Heimat verbunden fühlen: die jüdischen Familien in den Staaten nicht ausgeschlossen.
Lassen Sie uns nun gemeinsam einen Weg beginnen, auf dem wir unter gegenseitiger Hilfe den wahren Sinn unseres Lebens und der damit verbundenen Aufgaben auf Erden erkennen. In diesem Geiste sind Möglichkeiten vorhanden, daß unsere Gemeinde eine echte Gemeinschaft werden kann.
Besten Dank für Ihr Zuhören und Ihnen wünsche ich alles, alles Gute.
Brechen, den 3. Dez. 1974 (Kramm) Bürgermeister
(Quelle: Inform. Informationsblatt für die Gemeinde Brechen, 20.12.1974, S. 02: In der Sitzung.)