20 Jahre Brechen

Demokratie lebt vom Interesse jedes einzelnen an öffentlichen Dingen

Der allgemeine Wertewandel und die gesellschaftliche Entwicklung zur Vereinzelung der Menschen und zum Egozentrismus, verbunden mit einem großen Anspruchsdenken reduziere in den Augen vieler auch die Leistungen der Politiker auf ein Getränkeautomaten – Niveau. Ein Anspruchsdenken, das nicht weiterreiche als die eigenen Bedürfnisse, das in Verdrossenheit umschlage, wenn diese Bedürfnisse nicht erfüllt werden, mache die eigentliche Politikverdrossenheit, die derzeit in aller Munde sei. Politik und Politikverdrossenheit waren das Thema des Vortrags von Dr. Willi Steul, Chefredakteur von Radio Deutschland, beim Brechener Gemeindeforum in der Emstalhalle in Oberbrechen. Neben diesem Vortrag galt das Gemeindeforum der Ehrung von Bürgern, die sich in verschiedenster Weise in der Gemeinde engagierten oder herausragende sportliche Erfolge errangen. Musikalisch umrahmt wurde die Feierstunde, mit der auch das 20-jährige Bestehen der Gemeinde Brechen in ihrer heutigen Form begangen wurde, vom Musikverein Oberbrechen.

Das Gemeindeforum solle Gelegenheit zur Begegnung sein, Rahmen, den Menschen, die zum Wohl der Allgemeinheit tätig seien, Dank abzustatten, Orientierung bieten, führte der Vorsitzende der Gemeindevertretung, Josef Wünschmann aus. Mit Bürgermeister Bernhard Königstein ehrte er zahlreiche verdiente Bürger.

Die eigentliche Politik geschehe in den Gemeinden, stellte Dr. Steul, gebürtiger Niederbrechener, fest. Die Institutionen auf überschaubarer Ebene seien es, die den Menschen Halt, das Gefühl der Zugehörigkeit und ein Stück Heimat gäben, ohne den Blickwinkel darauf zu beschränken. Wer seinen politischen Anfang an dieser Basis genommen habe, lerne, dass Gespräche über Parteigrenzen hinaus notwendig und Politik auch Partnerschaft sein müssen, ohne dabei Interessengegensätze oder verschiedene Standpunkte zu verleugnen. Nur im Ringen miteinander könnte Demokratie und Freiheit gedeihen. Klagen über Streit in den parlamentarischen Gremien zeugten nur von der Unreife der Klage führenden, denn Demokratie sei immer auch ein Streit.

Politik müsse nicht immer altruistisch sein, betonte Dr. Steul. Immer sei auch Eigeninteresse im Spiel. Menschen, die in der politischen Verantwortung stünden, müssten Lust und Willen zur Mitgestaltung des Gemeinwesens und eine gesunde Freude an der Macht haben. Dies aber immer in dem Bewusstsein, nur auf Zeit gewählt zu sein und Mandat und Macht nur geliehen zu haben, denn souverän sei der Bürger.

Politik, so mahnte Dr. Steul, müsse in dem ihm von der öffentlichen Meinung gesetzten Rahmen bleiben, dürfe den Bürgern nicht zu weit vorauseilen, müsse aber in extremen Fällen gegen den Willen der Bürger handeln. Als Beispiel nannte er den Jugoslawien – Krieg. Ein militärisches Eingreifen von UNO bzw. Nato zu Beginn der serbischen Expansion hätte seiner Meinung nach dem Konflikt im Keime erstickt. Dies sei allerdings von der Bevölkerung nicht gewünscht worden. Die heutige eingesetzte Gewalt komme zu spät und sei sinnlos.

Politikverdrossenheit nannte Dr. Steul ein gefährliches Modewort. Demokratie stehe und falle mit dem Interesse eines jeden einzelnen an den öffentlichen Dingen, die Politik aus-machten. Mit Politikverdrossenheit werde eigentlich die größere Entfremdung zwischen Bürgern, Politikern und Politik gemeint.

Die Wähler formulierten Ansprüche an die Politik und seien verdrossen, wenn diese nicht erfüllt würden. Dies gelte in zunehmendem Maße auch für die Kommunalpolitik.

Die dringende Diskussion über Veränderung in der Gesellschaft müsste unten, in den Gemeinden, beginnen. Vom Gemeinwesen dürften nicht nur Leistungen verlangt werden

Vielmehr müssten die Menschen sich und ihre Fähigkeiten in die Gestaltung dieses Gemeinwesens einbringen.

Wichtig für eine Gemeinde seien Phänomene wie Nachbarschaftshilfe oder Vereine, die Bindung und Sicherheit gäben. Die humane Bedeutung solcher Institutionen, die Halt böten, dürfe nicht unterschätzt werden, denn nur wer Wurzeln habe und offen sei, habe Interesse an der Politik und das Gerede von Politikverdrossenheit erübrige sich.

Der Ehrentitel »Gemeindeältester« wurde Hans Bertram und Gerd Roth beim Gemeindeforum in Oberbrechen verliehen. Bürgermeister Bernhard Königstein und der Vorsitzende der Gemeindevertretung, Josef Wünschmann, überreichten die Urkunden.

Quelle: Inform Brechen, 01.12.1994

zurück